„Wie Poesie entsteht
Ich setze mich nicht um acht in der Früh an den Schreibtisch oder am Nachmittag um zwei und sage: Jetzt schreib‘ ich ein Gedicht. Ein Gedicht schreibt sich, es kündigt sich an, mit Wortfetzen, Rhythmen und Bildern. Erst dann fang ich an, darüber nachzudenken. Handwerkliche Erfahrungen kommen hinzu, Versuche entstehen, immer noch im Kopf, und ich hoffe, die ersten Zeilen nicht zu vergessen.
Ich fange an zu schreiben, es drängt sich mir auf, ganz gleich, wo ich bin. Ich trage auch stets das zum Schreiben Nötige mit mir herum, oft Bleistift und Papier. Oft aber auch mein kleines Alleskönner-Telefon mitsamt seiner Notenschreibmaschine.
Chansons entstehen auf ähnliche Art und Weise. Manchmal steht am Anfang ein kleines Melodie-Fragment, das in meinen inneren Speichern nach Worten und Sätzen mit melodischen und rhythmischen Ähnlichkeiten sucht. Manchmal verlangt ein melodischer oder rhythmischer Satz nach einem tragfähigen Weg, einem Flussbett ähnlich, das er entlang fließen und in dem er sich ausbreiten kann. Auch hierbei entstehen die Melodien zuerst im Kopf, samt ihrer Notation, bevor ich sie aufzeichne. Ich suche nie aktiv nach Worten, die Worte finden mich, und genau das Gleiche tun die Melodien.
Ich bin kein Sprach-Anatom, Gott bewahre, und möchte nie einer werden. Ich habe die Anatomie des Menschen studiert, mit heißem Bemüh’n. Ich hab‘ die sterblichen Überreste seziert, bis nur noch ein Gerippe übrig blieb. Weil es mir helfen sollte, ihn bis in sein Innerstes hinein kennen zu lernen und ihn zu heilen, den Menschen. Die Sprache muss ich nicht heilen, sie ist ja nicht krank. Ich würde es auch nicht mögen, sie auseinander zu nehmen, um sie dann wieder neu zusammen zu setzen. Vielleicht würde niemand sie wieder erkennen. Ich möchte, dass sie mich liebt, die Sprache, so wie sie ist und so, wie ich sie liebe. Ich möchte in sie eindringen und ich möchte, dass sie sich in mir ausbreitet, von sich aus. Beim Gedanken, sie zu sezieren, schaudert’s mich.
Wenn Eindringen und sich Ausbreiten mit Liebe zu tun haben, dann bedeutet Sezieren… Zerstören. Gefühle werden entweiht, der Zauber verfliegt, Farben verlaufen und was Musik war, wird zur Kakophonie. Wort-Trümmer, zerrissene Partituren, kein Sehen, kein Hören und kein Verstehen mehr. Ein Buchstabenmeer in einem autistischen Raum. Das Ich bleibt im Ich gefangen und das Du hat jede Bedeutung verloren.
Das ist nicht meine Poesie. Liebe, Gefühle und Schönheit kann man nicht nüchtern hinterfragen, ohne Gefahr zu laufen, sie umzubringen.“
Auszug aus: Jean M. P. Gilbertz. „der gesang der zikade.“ Edition Octopus. iBooks.
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